Was ist Yoga?

Was soll denn die Frage? Das weiss doch heutzutage jedes Kind...!

Ich habe gemerkt, dass wir uns in vielen Fragen gerne mit einfachen Antworten zufrieden geben und dann glauben zu wissen. Dann ist die Welt wieder in Ordnung und alles scheint unter Kontrolle. Das ist jedoch meist eine Illusion.

 

Beim Yoga ist das sehr ausgeprägt, denn meistens besteht die sichtbare Oberfläche aus den Körperübungen (Das ist auch bei meinen Lektionen so). Wer das sieht, ist schnell dazu verleitet zu glauben, das sei Yoga. Aber unter dieser Oberfläche tut sich noch einiges. 

Wenn wir die ‚Definition‘ aus Patanjalis Yoga-Sutra anschauen, wird der Grund für die Körperübungen nicht gleich ersichtlich, denn da steht: „Yoga ist das 'zur-Ruhe-kommen' der Geistesbewegungen“ Und das ist tatsächlich ein zentrales Ziel des Yoga, welche Formen auch geübt werden.

Die Körperübungen sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel: Durch die Beanspruchung der grossen Muskelgruppen werden Stresshormone abgebaut und so der Moduswechsel im autonomen Nervensystem - vom Sympatikus (Kämpfen oder Fliehen) zum Parasympatikus (Ruhen und Verdauen) - unterstützt. Weiter dienen die Körperübungen für Beweglichkeit und Kraft auch dazu, eine stabile und leichte Sitzposition für eine längere Zeit ohne Anstrengung halten zu können. Also eine Vorbereitung auf die Meditation.

Ein gesunder und schmerzfreier Körper ist auch ein Nebenziel von Yoga, denn mit Schmerzen und Krankheiten sind wir stark abgelenkt und es fällt schwer, die Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen. Besonders dieser Gesundheits-Nebeneffekt von Yoga ist das, was unsere Gesellschaft (im Speziellen die Krankenkassen) unterstützt.

 

Bewegungen, Atmung, Gedanken und Emotionen sind vier wichtige Dimensionen unseres körperlichen Daseins. Was auch immer wir erreichen möchten: Wenn alle diese vier Ebenen auf das gleiche Ziel ausgerichtet sind, gelingt es besser. Die Yogalektionen bieten eine gute Möglichkeit, diese Ausrichtung sich bewusst zu werden, zu üben und zu verinnerlichen. Im Alltag werden dann Herausforderungen gelassener und leichter gemeistert. Diese vier Dimensionen sind wie die vier Räder eines Wagens, die idealerweise alle auf das gleiche Ziel ausgerichtet sein sollten.

 

Bereits diese oben beschriebenen Inhalte sind schon viel mehr als Fitness. Das ist die 'aktive' Yogapraxis, die oft auch als „Kriya-Yoga“ bezeichnet wird - also jene bewussten Bemühungen die Energie im Körper und Geist zu steigern und steuern. Das ist das, was in den Yogalektionen geschieht. Weiter sind verschiedene Reinigungstechniken auch Teil von Kriya-Yoga.

Es gibt aber noch drei weitere Aspekte, die ebenso Teile von Yoga sind:

  • Jñana-Yoga - oder Yoga der Erkenntnis: Dies wird auch als Selbststudium bezeichnet. Das heisst einerseits sich selbst zu studieren (Wer bin ich? Wie ‚funktioniere’ ich? Was ist mein Leben? Und was ist der Tod?). Andererseits geht es auch um das eigenständige Studieren von Schriften, die für die eigene Weiterentwicklung förderlich sind. Das können klassischerweise altindische Schriften sein oder auch Weisheiten von allen anderen Kulturen (Buddhismus, Taoismus, Sufismus, ...)  und auch solche von modernen Lehrern (Albert Schweitzer, Lorentz Marti, ...).
  • Bhakti-Yoga - oder Yoga der Hingabe: Im traditionellen Sinn wird der eigene Wille dem Willen der Götter untergeordnet (wie auch bei uns: "Dein Wille geschehe"). Im modernen Kontext stösst das nicht so auf Akzeptanz und wird in einem weiteren Sinn verstanden: "Ich vertraue dem Leben; nehme an, was es mir gibt; und bin dankbar, all diese irdischen Erfahrungen machen zu dürfen." Positive Emotionen werden zelebriert und negative für die persönliche Weiterentwicklung genutzt. (schönes Buch: "Das Experiment Hingabe" von Michael A. Singer)
  • Karma-Yoga - oder Yoga der Handlungen: Wisse, was dein Auftrag ist und mache dies, ohne an den Früchten deiner Taten zu hängen (aus der Bhagavad Gita). Handlungen, die aus Liebe und Mitgefühl verrichtet werden, wirken sich positiv auf das Karma aus. Handlungen die durch Gier, Rache oder Neid motiviert sind, fallen irgendwann wieder auf uns zurück. 

Wie auch bei Pestalozzi geht es hier um Kopf (Jñana), Herz (Bhakti) und Hand (Karma). Das ist etwas, das beim Yoga - lauter Fitness - oft vergessen geht.

 

Wenn nun Yoga als Fitness angeboten wird, habe ich ein gemischtes Gefühl:

  • Einerseits schmerzt es mich tief innen, denn es ist als ob man ein Stück Karton mit einem aufgeklebten Bild eines Smartphones als Smartphone verkaufen wolle. Das bestätigt oft die einfache Vorstellung, dass Yoga eine Sportart sei und dazu bestenfalls auch noch entspannt. Dadurch geht die Essenz des Yoga verloren.
  • Andererseits ist es eine gute Möglichkeit, dass auch Menschen angesprochen werden, die Fitness suchen, aber etwas viel wertvolleres auch noch bekommen. 

Ich finde es jedenfalls wichtig, dass die Yogalehrerinnen und -lehrer, egal wie es angeboten wird, dem ganzen Spektrum von Yoga genügend Platz geben. Nur so wird es dem gerecht, was es ist. Nämlich eine ganzheitliche Herangehensweise, um das Potential unseres menschlichen Daseins zum Ausdruck zu verhelfen.

Körperübungen sind auch bei meinen Lektionen ein wichtiges Element und sollen eine angemessene Herausforderung für alle Teilnehmer*innen sein. Gleichzeitig wird damit das 

Körperbewusstsein gefördert. Das findet bei vielen Menschen unserer Gesellschaft zu wenig Beachtung. Es ist doch ein paradoxes Phänomen: Unsere Gesellschaft beachtet im Zuge der Rationalität nur das Materielle als real. Doch wenn es um uns Menschen geht wird der Materie - also unserem Körper - nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt und die Verantwortung demgegenüber ausgelagert.

 

Es ist nicht wichtig, aus welchem Grund man Yoga praktiziert - es wirkt in jedem Fall. Es fördert auf jeden Fall das Körperbewusstsein und setzt vielleicht einen Samen um nach und nach mehr darüber zu erfahren, was wir ‚Menschen’ sind und was wir bewirken können.

 

Dies ist meine momentane Darlegung, wie ich Yoga zusammenfassend darlege. Also was mir zur Zeit am Wichtigsten scheint.

Wenn dieser Text in dir etwas ausgelöst hat, freut das mich. Und noch mehr wenn du das mir mitteilen möchtest. 

Vielen Dank fürs Lesen!